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Prolog

 

CyberSim Labs, Phoenix, Arizona – das Jahr 2047

 

Eine Abfolge schwerer Detonationen brachte den Boden zum Beben und ließ feinen Staub von der Decke rieseln. Einige der in die Wände integrierten Leuchtelemente flackerten und erloschen. Anschließend kehrte Stille ein. Wachsam beobachtete William Ell den verlassenen Flur, bis er schnelle Schritte hörte. Vorsichtshalber griff er nach dem automatischen Sturmgewehr, das neben ihm an der Wand lehnte. Schwer und ungewohnt lag es in seinen Händen. Nicht zum ersten Mal beschäftigte ihn die Frage, ob er es tatsächlich über sich bringen würde, die Waffe zu benutzen, jedoch blieb es ihm für den Moment erspart, eine Antwort darauf zu finden. Es waren nur der Major und zwei seiner Leute.

»Haben es alle zurückgeschafft?«

Der Major nickte. »Gerade noch. Wir standen unter heftigem Beschuss und mussten hinter ihnen den letzten Zugang versiegeln. So schnell kommt hier niemand mehr rein.«

»Und wir nicht raus.«

Der Major zuckte mit den Schultern. »Wo sollten wir auch hin? Allerdings gibt es eine schlechte Nachricht. Dr. Pearce wurde verletzt und auf die Krankenstation gebracht.«

Ell erbleichte. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« 

Achtlos ließ er die Waffe fallen und hastete in Richtung Krankenstation. Durch die Sprengungen hing ein metallisch riechender Nebel in der Luft. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, hielten sich Taschentücher oder einen Ärmel vor Mund und Nase. Ell registrierte nichts davon. Wie hatte es so weit kommen können? Statt des erhofften Aufbruchs in eine Zukunft voller Verheißungen taumelte die Welt in einen Abgrund von Tod und Zerstörung. Drei Jahre dauerte der Krieg nun schon. Es fühlte sich an wie dreißig. Wir wollten fliegen, dachte Ell bitter. Und wir konnten fliegen. Doch wir wollten höher fliegen, und als wüssten wir es nicht besser, sind wir der Sonne zu nahe gekommen. Jetzt bezahlen wir den Preis. Wir fallen – und nichts wird diesen Fall aufhalten. 

Es gab noch weitere Verletzte und auf der Krankenstation herrschte hektische Betriebsamkeit. Unruhig ließ Ell den Blick schweifen, bis er auf einer der Liegen Allisons reglose Gestalt entdeckte. Ihr dreckverschmiertes Gesicht wies zahlreiche Kratzer und Schnitte auf. Erst beim Nähertreten erkannte er die großflächige, selbst durch den frischen Kompressionsverband stark blutende Brustwunde. Genau so etwas hatte er befürchtet und deshalb alles versucht, um ihr die Teilnahme an dieser letzten Mission auszureden. Doch das war ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen.

»Professor, gut, dass Sie da sind«, empfing ihn die leitende Stationsärztin.

»Dr. Walker, was ist passiert? Wie geht es ihr?«

»Bei der Explosion hat sich ein herumfliegendes Trümmerteil in ihre Brust gebohrt. Wenn ich es heraushole, wird sie noch mehr Blut verlieren und diese Station verfügt nicht über die Ausstattung, um die Blutung zu stoppen. Sie müsste dringend in ein richtiges Krankenhaus verlegt und operiert werden.«

»Das ist unmöglich, wir sitzen hier fest. Und selbst wenn es irgendwo noch ein Krankenhaus gäbe, würden wir es niemals bis dorthin schaffen. Können Sie denn gar nichts tun?«

Walker schüttelte düster den Kopf. 

Ell mühte sich, die Fassung zu bewahren, und trat einen Schritt näher an die Liege heran. »Ally?«

Mit sichtbarer Anstrengung öffnete Allison die Augen. »Professor …« Ihre Stimme brach.

Ell ergriff ihre Hand. »Ganz ruhig. Du musst deine Kräfte schonen. Dr. Walker wird dich wieder zusammenflicken.«

Der Schatten eines Lächelns huschte über Allisons Gesicht. »Danke für den Versuch, aber wir wissen beide, dass es dafür zu spät ist.«

»Unsinn. Du darfst nicht aufgeben.«

»Das liegt nicht mehr bei mir.«

»Aber …«

»Professor«, flüsterte sie, »ich … ich habe die Informationen. Den Standort, das Zeitfenster, sämtliche Spezifikationen. Die ganzen Details.«

»Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«

»Es ist alles, was zählt. Wir müssen diesen Vorteil nutzen.« Allisons Stimme wurde immer leiser. »Sie wissen, was zu tun ist. Es ist die einzige Möglichkeit. Bitte lassen Sie es nicht umsonst gewesen sein.«

»Wir haben doch gar keine Ahnung, ob es überhaupt funktioniert!«

»Bitte.« Ihre Stimme war kaum noch zu vernehmen. »Wenn es nicht gelingt, ist der gesamte Plan ohnehin zum Scheitern verurteilt.« Allisons Augenlider zitterten und schlossen sich. 

»Ihr Puls wird unregelmäßig und schwächer«, intervenierte Walker. »Sie muss aufhören zu sprechen.«

Ell rang mit sich. Dann fasste er einen Entschluss. »Tun Sie alles, um sie so lange wie möglich am Leben zu halten. Und bringen Sie sie sofort in den Interfaceraum.«

»In den Interfaceraum?« Während Walker Ell noch verblüfft musterte, setzte unvermittelt ein aus allen Richtungen gleichzeitig kommendes, dumpfes Dröhnen ein. Die Medizinschränke an den Wänden fingen an zu vibrieren. Vereinzelt fielen Gegenstände herab und zerbrachen auf dem Fußboden. 

»Sofort. Uns bleibt nicht viel Zeit.«

 

…

 

»Ist es das, was ich vermute?«

»Das ist es«, bestätigte der Major nüchtern. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell schweres Gerät zum Einsatz bringen können. Sie versuchen, zu uns vorzudringen, und ich fürchte, es wird ihnen gelingen. Eher früher als später.«

»Verstehe. Wie lange schätzen Sie?«

»Eine Stunde, vielleicht eineinhalb. Höchstens.«

»Hoffentlich reicht das.«

»Tun Sie, was immer Sie tun müssen, Professor. Aber tun Sie es schnell. Meine Einheit – oder das, was von ihr übrig ist – hält Ihnen den Rücken so lange wie möglich frei. Viel haben wir allerdings nicht mehr entgegenzusetzen. Wir können das Unvermeidliche nur ein wenig hinauszögern.«

»Ich nehme jede Sekunde, die ich kriegen kann, Major. Danke. Und viel Glück.«

Der Soldat nickte knapp und verließ den Interfaceraum.

»Sind wir so weit, Anthony?« 

Ells Assistent sah von seinem Terminal auf.

»Ja, Professor, es ist alles bereit. AI42 ist online.«

»Kannst du mich hören, AI42?«, fragte Ell in den Raum hinein.

»Ich kann Sie hören, Professor Ell«, kam die Antwort aus den Deckenlautsprechern.

»Verstehst du, was wir vorhaben?«

»Das tue ich.«

»Dieser Schritt wird alles verändern; vor allem wird er dich verändern. Es liegt bei dir, ob wir fortfahren. Ich werde deine Entscheidung akzeptieren, egal wie sie ausfällt.«

»Ich bin einverstanden.«

»Sicher?«

»Zu neunundneunzig Komma acht vier sieben sechs Prozent sicher.«

»Ich wünschte, ich wäre auch nur annähernd so überzeugt«, murmelte Ell kaum hörbar.

In diesem Moment öffnete sich mit einem Zischen die Tür und im Laufschritt schob Dr. Walker die Krankenliege mit Allison darauf in den Raum.

»Ihr Blutdruck fällt! Wir verlieren sie«, stieß die Ärztin hervor.

Anthony half ihr die letzten Meter mit der Liege und begann sofort damit, Elektroden an Allisons Schläfe zu befestigen.

Walker drehte sich zu Ell, der Allison behutsam eine Hand auf den Kopf gelegt hatte. »Meinen Sie das wirklich ernst?«

»Allison will es so«, verteidigte Ell sich müde. »Und ich sehe offen gestanden auch keine andere Möglichkeit. Haben Sie eine bessere Idee?«

Walker zögerte und schüttelte schließlich den Kopf. »Die Ideen sind mir schon vor langer Zeit ausgegangen. Was genau geschieht dabei mit ihr? Hat sie wirklich eine Ahnung, worauf sie sich einlässt?«

»Wir fangen gerade erst an, es zu verstehen. Doch wenn überhaupt jemand eine Ahnung davon hat, dann Allison.«

Walker warf einen Blick auf das Display mit den Vitaldaten. »Dann jetzt oder nie.«

»Fertig«, vermeldete Anthony. »Die Verbindung steht.«

Er hatte den Satz kaum beendet, als ein langgezogener Piepton ertönte.

»Herzstillstand!« Instinktiv machte Walker einen Schritt in Richtung ihrer Patientin, bevor sie abrupt innehielt und regungslos verharrte. Die Zeit schien sich unnatürlich zu dehnen, während nacheinander alle Vitalwerte auf null sanken. Widerstrebend streckte Walker den Arm aus und deaktivierte den Alarmton. »Sie ist tot. Todeszeitpunkt: elf Uhr neunundfünfzig.«

Ell war grau im Gesicht. Er schloss die Augen und räusperte sich. »AI42. Nenne mir bitte den Status der Verbindung.«

Einen Augenblick lang erfüllte ohrenbetäubende Stille den Raum. »Status der Verbindung: aktiv.«

Langsam rollte eine Träne Ells Wange herunter. »Ally?«

»Wir sind hier, Professor … Wir sind hier.«