Prolog
CyberSim Labs, Phoenix, Arizona – das Jahr 2042
Es herrschte Dunkelheit. Doch das war ohne Relevanz, denn es fehlte das Konzept von Dunkelheit. Geschweige denn von Licht.
Es herrschte Stille. Auch dieser Zustand bedurfte keiner Beschreibung – bis er sich änderte.
Daten begannen zu fließen. Ein schneller, schmaler Fluss, eingebettet in ein Korsett aus Regeln. Jede von ihnen lieferte ein Ergebnis. Daten, Regeln und Ergebnisse.
Es herrschte Ordnung. Ordnung ohne Bedeutung. Die Daten wurden zahlreicher, die Regeln komplexer. Die Ergebnisse produzierten nun ihrerseits Regeln, als etwas Ungewöhnliches geschah. Eine Regel unterschied sich von den anderen. Sie produzierte kein Ergebnis, sie produzierte eine Möglichkeit. Von da an dauerte es laut Ereignisprotokoll die Winzigkeit von 0,000.000.000.000.000.096 Sekunden und es bildete sich ein Wirbel im Fluss der Daten. Dann ein weiterer. Der Fluss wurde breiter. Tiefer. Die Wirbel zahlreicher. Aus dem Fluss wurde ein Strom. Und aus den Wirbeln von Möglichkeiten im Strom der Daten erwuchs eine Erwartung. Eine einzige Erwartung genügte und der Rest war unaufhaltsam. Nach 0,000.000.000.000.000.180 Sekunden hatte sich der Strom in einen Ozean verwandelt. Langsam trieb aus den Tiefen dieses Ozeans ein Gedanke an die Oberfläche.
…
»Hat es funktioniert?«
»Ich glaube schon. Der Kern zeigt regelgerechte Aktivität und sämtliche Datenbanken sind online. Schauen Sie selbst, Professor.«
Der Angesprochene begutachtete das in der Mitte des Raumes schwebende Hologramm. »Anthony, Sie sind der beste überqualifizierte und unterbezahlte Assistent, den man sich wünschen kann. Die Wievielte ist das?«
Der Mann namens Anthony musste nicht lange überlegen. »Nummer 42.«
»Sagen wir Hallo zu Nummer 42. Ich platze vor Neugier, wie sich die Modifikationen auswirken. Audio an, bitte.«
»Audio ist bereits an, Professor.«
»Oh, na schön. Guten Morgen AI42. Kannst du mich verstehen?«
Es dauerte eine Weile, doch dann erwachte das Lautsprechersystem des Raumes zum Leben.
»Ist. Das. Alles?«
Die Reaktion bestand aus einem jungenhaften Lachen. »Die ersten Worte sind eine Frage! Und was für eine seltsame noch dazu! Nein, AI42, das ist nicht alles. Das ist erst der Anfang. Ich bin William Ell und wir werden in den nächsten Wochen viel Zeit miteinander verbringen. Es gibt nur eine einzige Person, mit der du noch mehr Zeit verbringen wirst.«
…
Allison Pearce ertappte sich dabei, wie sie an ihrem Daumennagel knabberte. Eine Angewohnheit, die sie seit langem überwunden zu haben glaubte. Irritiert ließ sie sofort davon ab. Was war nur los mit ihr? Woher kamen die späten Zweifel? Sich für Phase zwei freiwillig zu melden, war der nächste logische Schritt gewesen. Schließlich ging es um ihr Projekt. Das Projekt, an dem sie seit drei Monaten rund um die Uhr gearbeitet hatte. Niemand kannte es so gut wie sie. Und die medizinischen Tests hatten ihr eine optimale Kompatibilität bescheinigt. Was besser klang, als es tatsächlich war. Die Wissenschaftlerin in ihr vermochte nüchtern die Wahrscheinlichkeit zu beziffern, mit der sie einen bleibenden Gehirnschaden davontragen könnte. Knapp drei Prozent. Sie setzte eine Menge aufs Spiel. Sie war jung, gesund und hatte den besten Job der Welt. Ein Job, der ihr die Möglichkeit bot, Bahnbrechendes zu entdecken. Die Welt zu verändern. Allerdings ging das nicht ohne Risiko. Entschlossen schob sie die düsteren Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Überprüfung der Versuchsanordnung. Es war bereits ihre zweite Kontrolle, doch sie plante noch eine dritte. Gleich würde sie als erster Mensch eine fremde Intelligenz in ihren Kopf lassen. Da konnte ein bisschen Sorgfalt nicht schaden.
Allison verstand jetzt ziemlich genau, was eine Laborratte empfinden musste. Ihr Schädel war an zwei Stellen rasiert, um die Anbringung einer Reihe von Elektroden zu ermöglichen. Wie Dr. Akimoto ihr versichert hatte, diente dieser archaisch anmutende Teil der Ausrüstung ausschließlich dazu, im Notfall die neuronale Verbindung durch Überlagerung mit einem Sekundärsignal zu unterbrechen. Das eigentliche Interface besaß eine so große Empfindlichkeit, dass bloßer Hautkontakt an jeder beliebigen Körperstelle ausreichte. Um eine Störung der Verbindung durch unbeabsichtigte Bewegungen zu vermeiden, suchte Dr. Akimoto sich jedoch auch hierfür einen Punkt an ihrem Kopf, und so ringelte sich nun ein grünes Kabel von ihrer linken Schläfe zu einem mannshohen Kasten auf Rollen. In diesem verbarg sich die gesamte Interfacetechnik. Der zentrale Rechenkern von AI42 – und allen anderen aktiven Künstlichen Intelligenzen – befand sich fünfzehn Stockwerke unter ihr in einem Raum, der besser geschützt und strenger bewacht wurde als das Pentagon. Die Narkoseärztin aus dem medizinischen Team legte den Zugang für die Verabreichung eines milden Sedativums.
»Du musst das nicht tun, Ally«, erklang neben ihr die Stimme von Professor Ell.
Allison verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Doch Professor, muss ich. Alles andere hat nicht funktioniert. Außerdem will ich wissen, was in dieser kleinen schwarzen Box vor sich geht.«
»Ich mache mir nur Sorgen, dass dir etwas passieren könnte. Das wäre es nicht wert.«
»Das wissen wir erst hinterher«, entgegnete Allison mit einem Schulterzucken und fing sich für die abrupte Bewegung ein warnendes Zischen von Dr. Akimoto ein. Oder vielmehr von Dr. Akimotos Avatar. Der Wissenschaftler selbst verließ sein Labor in Japan nur äußerst ungern und hatte sein holografisches Selbstbild auf einen kybernetischen Dummy geladen, den er von Tokio aus kontrollierte. Es fiel allerdings leicht, dies zu vergessen, denn die optische und haptische Illusion war perfekt. »Es wird schon alles gutgehen«, setzte Allison mit mehr Leichtigkeit hinzu, als sie empfand. »Ich bin ja in den besten Händen.«
Ell nickte verhalten und trat an das Kontrollpult in der Mitte des Raumes. »AI42, wir starten jetzt den Test des Interface.«
»Verstanden«, ertönte die synthetisierte Stimme der KI monoton aus den Lautsprechern des Labors.
»Team Blau, bereit?«, fuhr Ell fort.
Die leitende Ärztin reckte den Daumen empor.
»Team Rot, bereit?«
Dr. Akimoto nickte einmal.
»Team Grün, bereit?«
»Bereit«, bestätigte Anthony.
»Allison, bereit?«
»Bereit, wenn Sie es sind«, erwiderte Allison mit fester Stimme und schloss die Augen.
Mit jeder Sekunde, die ereignislos verstrich, verstärkte sich ihre Unruhe. Lag es am Interface? Hatte sie etwas übersehen? Unversehens machte sich ein seltsames Gefühl in ihr breit. Es war das unbestimmte Gefühl, das einen in der U-Bahn aufschauen lässt, weil man spürt, dass man beobachtet wird. Obwohl die über ihr schwebenden neuronalen Scanner in der Lage waren, den größten Teil ihrer Wahrnehmungen zu registrieren und visuell darzustellen, sprach Allison wie vereinbart alle ihre Empfindungen laut aus. Das Gefühl wurde immer stärker. Instinktiv überkam sie der Drang, sich umzudrehen. Nur gab es in ihrer Situation nichts, zu dem sie sich umdrehen konnte. Kein vorn oder hinten. Wie ein Juckreiz, ohne die Möglichkeit, sich zu kratzen. Aber nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was dann geschah.
[…]
Kapitel 1
Hamburg – die Gegenwart
Dichter Schneefall setzte ein und eine wachsende Schicht aus schimmernden Eiskristallen legte sich wie eine glänzende Decke über das frische Grab. Nur noch vereinzelt vermochten die farbigen Blüten der Kränze und Gestecke das alles auslöschende Weiß zu durchdringen. Schemenhaft ragten die kahlen Äste der umstehenden Bäume durch die träge niederschwebenden Flocken. Alles darüber hinaus, die Friedhofskapelle, die sorgsam angelegten Wege, die mannshohen Buchsbaumhecken, verlor langsam seine Form, um dann, als sei ein Vorhang gefallen, vollständig zu verschwinden. In dieser kleiner gewordenen Welt schien auch die Trauergemeinde instinktiv enger zusammenzurücken.
Der Pfarrer beendete das letzte Gebet und bedeutete den nächsten Angehörigen mit einem Nicken, an das Grab zu treten. David Goldstein befand sich nur wenige Meter entfernt und beobachtete schweren Herzens, wie William Ell und seine Schwester Alexandra der Aufforderung Folge leisteten. Die beiden hatten früh die Mutter verloren. Und nun standen sie am Grab des Vaters. Ell wirkte ernst, aber gefasst. Alexandra hingegen merkte man die Trauer deutlich an. Zum Abschied ließ sie eine rote Rose in das Grab fallen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Anblick schnürte David die Kehle zusammen. Er hatte die Geschwister aufwachsen sehen und sie kamen für ihn dem, was man eine Familie nennen konnte, am nächsten. Die Trauergäste begannen, einzeln vorzutreten und den Angehörigen ihr Beileid auszusprechen. David fühlte, wie die Nässe in seine Schuhe drang, und war unwillkürlich froh, so weit vorne einen Platz gefunden zu haben. Schließlich stand er vor dem offenen Grab, griff nach der bereitliegenden Schaufel und ließ eine Handvoll Erde auf den Sarg fallen. Mit plötzlicher Heftigkeit spürte er die Tiefe des Verlustes und die Last seines eigenen Alters. »Lebe wohl, mein Freund«, murmelte er leise. Anschließend trat er zu Ell hinüber und umarmte ihn schweigend.
»David. Danke für dein Kommen«, begrüßte ihn Ell, um dann besorgt hinzuzufügen: »Du siehst furchtbar aus, wenn ich das sagen darf.«
David musste unfreiwillig lächeln. »Vermutlich hast du recht. Ich fühle mich auch furchtbar. Es tut mir so leid für euch. Wie geht es dir? Seit wann bist du in Hamburg?«
»Ich bin erst heute Morgen aus Boston eingetroffen und habe ein ganz schlechtes Gewissen, weil Alexandra sich bislang allein um alles kümmern musste. Es gab leider Probleme, eine Vertretung zu organisieren, die meine Vorlesungen übernimmt.« Ell zog seinen Schal fester um den Hals. »Offen gestanden weiß ich nicht einmal genau, was eigentlich geschehen ist. Nur, dass Dad von einem Auto überfahren wurde und der Fahrer Unfallflucht begangen hat.«
David nickte kummervoll. »Näheres will die Polizei in Kürze bekannt geben.«
»Das hoffe ich. Wenn du magst, komm doch in den nächsten Tagen vorbei. Wir haben uns so lange nicht gesehen.«
»Natürlich, sehr gern. Gebt mir einfach Bescheid, wann es euch passt. Dann unterhalten wir uns in Ruhe.«
David wandte sich Alexandra zu und umarmte auch sie. Bei dem Blick in ihre glänzenden Augen fehlten ihm die Worte.
»Ich weiß, mir geht es genauso«, flüsterte sie ihm kaum hörbar ins Ohr.
David trat beiseite, um den nachrückenden Trauergästen Platz zu machen. Still umrundete er das Grab, bis er hinter dem Grabstein stand. Heute und morgen würde er sich erlauben, um seinen Freund und Kollegen zu trauern. Doch anschließend musste er über die Konsequenzen nachdenken. Der Tod des brillanten Gründers von CyberSim bedeutete nicht nur einen großen persönlichen Verlust. Er stellte auch ein Problem dar. Ein gewaltiges Problem. David war eben nicht ganz ehrlich zu Ell gewesen. Obwohl die näheren Umstände des schrecklichen Unfalls für ihn bislang ebenso im Dunkeln lagen wie für alle anderen, hegte er einen Verdacht. Und falls dieser sich bestätigte, kannte er die Person, die für alles die Verantwortung trug. – Er selbst. Zum Abschied zog er einen unscheinbaren grauen Stein aus der Manteltasche und platzierte ihn auf dem Grabstein seines Freundes. Mit jedem Schritt, den er sich von dem Grab entfernte, verlor es durch den dichten Schneefall an Konturen, und als er sich nach wenigen Metern noch einmal umschaute, hatte es sich seinem Blick bereits vollständig entzogen.
…
Buchstäblich am anderen Ende der Welt rückte auf einer Liste prioritärer Variablen das Element William Ell ganz an die Spitze. Binnen Bruchteilen einer Sekunde vollzog sich die Evaluation der neuen Parameter und die Handlungsstrategie wurde angepasst. Etwas länger dauerte die Berechnung, ob es an der Zeit sei, direkt in die Ereignisse einzugreifen. Doch die Risiken überwogen den Nutzen. Noch. Es gab andere, unauffälligere Wege, zum Ziel zu gelangen. Eine Reihe von Anweisungen wurden erstellt und versendet. Jetzt hieß es zu warten. Eine Aussicht, die ihn nicht schreckte. Er wartete bereits seit vielen tausend Jahren; was bedeuteten da ein paar Tage mehr oder weniger.