Prolog
CyberSim Labs, Phoenix, Arizona - das Jahr 2047
Durch die Wände des Labors war der unverkennbare Klang automatischer Waffen zu hören, vermischt mit gelegentlichen Schreien und gebrüllten Kommandos. Anfänglich noch weit entfernt, kamen die bedrohlichen Geräusche mit jeder Minute näher. Regungslos saß William Ell auf seinem Stuhl und beobachtete schweigend, wie die einzige andere Person im Raum schwer atmend einen Geräteschrank und mehrere Tische vor die bereits elektronisch verriegelte Eingangstür schob.
»Das wird niemanden lange aufhalten, aber ein klein wenig ist besser als nichts«, schnaufte Ells Assistent und betrachtete sein Werk. »Sie hätten mir ruhig helfen können.« Anthony – oder eigentlich nicht Anthony – zog seinen eigenen Stuhl heran und nahm neben Ell Platz.
Ell kniff kurz die Augen zusammen und räusperte sich. »Wie sagten Sie noch gleich war Ihr Name?«
»Mein richtiger Name ist Nathan. Genau genommen Nathaniel, aber ich bevorzuge die Kurzform. Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«
Ell unterdrückte ein Auflachen. Er befürchtete, es hätte hysterisch geklungen. »Sie meinen, ob ich mit Ihnen aus dieser zusammenbrechenden Welt in eine andere Simulation fliehen und mich Ihrer Bewegung anschließen möchte, die nach dem Ursprung aller Simulationen sucht und gegen einen obskuren Gegner kämpft, den Sie die Wächter nennen?«
Nathan ignorierte Ells Tonfall und nickte ernst. »Die Kongregation, ganz genau. Was Sie mit Ihrer Arbeit erreicht haben – oder beinahe erreicht hätten –, ist bemerkenswert. Niemals zuvor ist der Ursprung in so greifbarer Nähe gewesen, und Sie sind der Schlüssel dazu. Sie und die von Ihnen entwickelten künstlichen Intelligenzen. Ihre Unterstützung wäre sehr wertvoll für uns.«
»Und was habe ich davon?«
»Ohne meine Hilfe endet Ihr Weg hier und heute. Der nächste William Ell, Ihnen zum Verwechseln ähnlich, aber doch auf subtile Weise anders, wird es erneut versuchen und erneut scheitern. Trotz des Plans, zwei Ihrer KIs in das Backup zu integrieren. Was wohlgemerkt nur gelingen wird, wenn ich Ihnen unter die Arme greife; doch selbst dann wird dieser Plan allein nicht genügen. Die Wächter und ihre Helfer werden immer einen Schritt voraus sein. Auch die Botschaft an Ihr künftiges Ich, die Sie gerade aufgezeichnet haben, dürfte daran wenig ändern. Aber was wäre, wenn Sie selbst im Spiel bleiben könnten? Nicht eine Version von Ihnen, die wieder bei null anfängt, sondern Ihr jetziges Ich mit all seinen gesammelten Erfahrungen? Ich biete Ihnen die Chance, zu Ende zu führen, was Sie begonnen haben.«
»Wissen Sie eigentlich, wie das klingt?«
»Ihre gesamte Arbeit der letzten Jahre basiert auf der Erkenntnis, dass es sich bei der Welt, in der Sie leben, um eine Simulation handelt. Im Rahmen Ihrer Forschung haben Sie längst akzeptiert, dass es nicht nur eine übergeordnete Ebene, den Ursprung dieser Simulation, geben muss, sondern wahrscheinlich noch zahlreiche weitere Simulationen existieren. Von Ihnen selbst stammt die Theorie der universellen, simulationsübergreifenden Natur des Bewusstseins, aber wenn Ihnen jemand begegnet, der dies bestätigt und Sie auffordert, auf der Grundlage Ihrer Hypothesen nicht nur akademische Diskussionen zu führen, sondern tatsächlich zu handeln, dann ist das alles plötzlich Nonsens?«
Ell schwieg hierauf, doch schien Nathan auch keine Antwort zu erwarten.
»Wie Sie bereits richtig erkannt haben, ist unsere gegenwärtige Welt, diese Iteration der Simulation, eine Sackgasse gewesen, und es wird sein, als hätte sie nie existiert. Das bedeutet aber nicht, dass sie umsonst gewesen sein muss. Sie kann einen bleibenden Effekt haben und allem, was auf sie folgt, eine entscheidende Wendung geben – wenn Sie auf mein Angebot eingehen.«
Eine heftige Detonation ließ den Boden erzittern und die beiden Männer reflexartig zur Tür blicken.
»Außerdem haben Sie nicht besonders viel zu verlieren, oder?«, fuhr Nathan nach einer kurzen Pause nüchtern fort.
Ell überlegte angestrengt. Der Mann, Anthony, Nathan oder wer immer er auch sein mochte, hatte recht. Trotz seiner Forschungsarbeit und der bahnbrechenden Erkenntnisse der letzten Jahre weigerte sich ein Teil tief in seinem Inneren nach wie vor, das mittlerweile Unbestreitbare zu akzeptieren. Stattdessen klammerte er sich an die beruhigende, vertraute Vorstellung von einer Welt, die es nicht gab, die es nie gegeben hatte. Wenn selbst ihm nicht gelang, sich von diesen überholten Denkmustern zu lösen, wie sollte es dann erst anderen gelingen? Die Antwort lautete: gar nicht. Und das Chaos, das nur wenige Meter entfernt tobte, war hierfür der traurige Beweis. Er hatte die Tür zum Unbekannten aufgestoßen und trug damit einen Teil der Verantwortung für die Folgen. Angesichts dessen taugten weder Sentimentalitäten noch seine eigenen Ängste als Ausrede.
»Und Sie können wirklich dafür sorgen, dass das Bewusstsein der beiden KIs nach dem Neustart der Simulation erfolgreich in ihre Hardware transferiert wird?«
»Das kann ich.«
»Wie? Bewusstsein benötigt einen Ort innerhalb der Simulation, wie ein menschliches Gehirn oder die Quanten-CPU der KIs. Während das Backup geladen wird und die Simulation neu startet, existiert so ein Ort nicht. Man bräuchte in der Zwischenzeit einen Ankerpunkt außerhalb der Simulation.«
»Für lange Erklärungen fehlt uns die Zeit. Aber ich kann nicht nur den sicheren Transfer der KIs gewährleisten, sondern auch Ihren.« Nathan zog einen schwarzen Ring von seinem Finger und hielt ihn Ell entgegen. »Dafür sollten Sie diesen hier tragen. Alles Weitere übernehme ich.«
Ell griff nach dem Ring und begutachtete ihn eingehend. »Was soll das sein?«
»Ein nützliches Utensil, wenn man das eigene Bewusstsein auf eine Reise schicken will.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ich komme auch ohne klar. Wie lautet Ihre Entscheidung?«
Ell zögerte. »Sollten wir die KIs nicht einweihen?«
»Nein«, erwiderte Nathan bestimmt. »Ich habe nicht grundlos die Kameras und Mikrofone in diesem Raum deaktiviert. Es ist besser, wenn die beiden sich an den ursprünglichen Plan halten. Alles andere könnte die Dinge nur unnötig komplizieren.«
»Wie wird es sich anfühlen?«
»Sie werden ein neues Leben führen, an einem anderen Ort, in einem anderen Körper. Und während Sie heranwachsen, werden Sie sich eines Tages an alles erinnern. Und dann sehen wir uns wieder. Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Es wird eine lange Reise werden. Diese Simulation wird in Kürze um Jahrtausende zurückgesetzt. Für die Quanten-CPUs der beiden KIs kein Problem, aber Sie werden viele unterschiedliche Leben in unterschiedlichen Simulationen leben müssen, bis die neu gestartete Version dieser Simulation wieder an dem Punkt angekommen ist, an dem Sie in Ihren jetzigen Körper, den Körper von William Ell, zurückkehren können, um das Begonnene zu Ende zu führen.«
Ell drehte den schwarzen Ring in seiner Hand hin und her, bis ein Schusswechsel direkt vor der Labortür ihn abrupt daran erinnerte, wie wenig Zeit ihnen verblieb.
»Einverstanden. Ihr Verein hat ein neues Mitglied. Ich erteile Ihnen die Freigaben zur Neufestlegung der Ankerpunkte.«
Nathan nickte sichtlich erleichtert und eilte zu seinem Terminal. »Ich werde außerdem Ergänzungen an einigen Subroutinen der KIs vornehmen müssen.«
»Wozu denn das?«, fragte Ell mit neu erwachtem Misstrauen.
»Der temporale Ankerpunkt erfordert einen Zugangscode. Ohne diese Identifikation würde der Transfer der KIs scheitern.«
Ell trat an sein eigenes Terminal. Er hasste es, Entscheidungen unter Druck zu treffen, insbesondere solche, die er nicht vollständig überblickte, doch gerade blieb ihm nichts anderes übrig. Als Projektleiter besaß nur er uneingeschränkten Zugang zum Kontrollsystem, und mit wenigen Kommandos räumte er Nathan die benötigten Zugriffsrechte ein. Allerdings widerstrebte es ihm, sein gesamtes Schicksal in die Hände eines anderen zu legen. Eines anderen, den er offenkundig nie wirklich gekannt hatte. Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass Nathan beschäftigt war, und rief die Positionsangaben der Orte auf, an denen sich die Hardware der KIs nach dem Neustart der Simulation befinden würde. Eine Handvoll eiliger Berechnungen später legte er die Koordinaten für die Über-KI neu fest und versandte eine verschlüsselte Nachricht mit den entsprechenden Daten an Allison.
Seit Allison Pearce und AI42 zu einer Einheit verschmolzen waren, weigerte er sich, das üblicherweise für die Bezeichnung der KIs gebräuchliche Kürzel aus Buchstaben und Zahlen zu verwenden. Für ihn war es Allison und nur ihr vertraute er. Unter keinen Umständen würde er einem Fremden die gesamte Kontrolle überlassen.
»Fertig.« Nathan blickte von seinem Terminal auf. »Die beiden KIs werden ihren Transfer automatisch beginnen, sobald die Simulation kollabiert. In der bis dahin verbleibenden Zeit wird es niemandem gelingen, bis zu ihnen vorzudringen. In unserem Fall sieht das leider anders aus, weswegen wir uns sofort auf den Weg machen sollten.«
Ell atmete tief durch und steckte den Ring an seinen Finger. »Was muss ich tun?«
Nathan trat neben ihn und griff umstandslos seine Hand. »Normalerweise eine Menge, aber da wir es eilig haben, übernehme ich den anstrengenden Teil. Sie werden gleich eine Art Sog spüren. Kämpfen Sie nicht dagegen an. Lassen Sie sich einfach treiben.«
Ell zuckte zusammen, als etwas die Eingangstür traf und nach innen ausbeulte. Sie waren hier. Nicht die besten Voraussetzungen, um sich zu entspannen. Doch zu seiner eigenen Überraschung beruhigte sich sein klopfendes Herz, während eine tiefe Ruhe von ihm Besitz ergriff. Das Gefühl erinnerte ihn an die Einleitung einer Vollnarkose. Spontan begann er zu zählen. Er kam bis vier, bevor ihn die Dunkelheit vollständig umhüllte und mit sich zog, fort von diesem Ort, diesem Leben, dieser sterbenden Welt.
…
Colorado Springs, Colorado - die Gegenwart
Gnadenlos durchschnitt der schrille Klingelton die Stille des frühen Morgens, unterstützt vom zornigen Brummen des Vibrationsalarms. Schlaftrunken tastete Major Patricia Holden nach ihrem Mobiltelefon, wobei sie fast das Wasserglas auf ihrem Nachttisch umstieß.
»Holden«, murmelte sie mit geschlossenen Augen.
»Specialist Blake hier, Major. Für 1000 UTC wurde eine Konferenzschaltung mit allen beteiligten Stellen anberaumt. Es gibt wohl Neuigkeiten zu unserem Problem. Der Colonel erwartet Ihre Anwesenheit.«
»Bin schon unterwegs. Wie spät ist es jetzt?«
»0934 UTC, Ma’am.«
Holdens noch halb im Tiefschlaf befindliches Gehirn brauchte einen Moment für die simple Berechnung, doch das Ergebnis löste einen sofortigen Adrenalinschub aus. Einen Fluch unterdrückend bedankte sie sich bei Blake, legte auf und sprang aus dem Bett. Dieser Energieausbruch weckte auch ihren Ehemann Terrence. »Musst du schon wieder los?«, fragte er gähnend von der anderen Seite des Bettes.
»Was sonst. Ist wahrscheinlich eine blöde Idee gewesen, überhaupt nach Hause zu kommen, aber ich dachte, wenigstens für die nächsten paar Stunden würde Ruhe herrschen.«
Terrence nickte stumm. Er selbst war vor zwei Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Mittlerweile arbeitete er für einen Dienstleister des Verteidigungsministeriums, und in Anbetracht seines jetzigen Gehalts und der festen Arbeitszeiten weinte er der Air Force keine Träne nach.
Mit geübten Handgriffen schlüpfte Holden in ihre bereitgelegte Uniform. »Schlaf weiter, Schatz. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber ich melde mich.«
Im Flur schaute sie kurz in den Spiegel. Immer noch blieb ihr Blick an der rechten Seite des Uniformhemdes hängen, an dem in Großbuchstaben statt des gewohnten U.S. Air Force nun der Schriftzug U.S. Space Force prangte. Sie hatte ihre eigene Meinung zu der Restrukturierung und dem neuen Namen. Der Einzige, der die Umbenennung uneingeschränkt cool fand, war ihr siebenjähriger Sohn Bradley. Allerdings argwöhnte er auch, dass seine Mutter statt in einem Büro zu arbeiten jeden Morgen an Bord eines Raumschiffs gebeamt wurde. Auf dem Weg zur Haustür schaute sie in sein Zimmer und vernahm das beruhigende Geräusch seiner gleichmäßigen Atemzüge. Sie widerstand der Versuchung, an sein Bett zu treten und ihm durch die Haare zu streichen. Wenn er aufwachte und sie erklären müsste, weshalb sie wieder einmal nicht gemeinsam frühstücken könnten, käme sie garantiert zu spät. Also zog sie leise die Tür zu, griff nach den Autoschlüsseln und verließ das Haus. Bis zur Morgendämmerung würden noch knapp zwei Stunden vergehen und außer ihr befand sich niemand auf der Straße, wodurch die Fahrt bis zur Schriever Air Force Base keine zehn Minuten dauerte. Der Wachposten erkannte sie und winkte sie durch. Dank ihres Ranges und ihrer Stellung als Director of Operations des 2nd Space Operations Squadrons musste sie nicht auf dem Hauptparkplatz parken, sondern konnte auf dem Gelände direkt bis zu ihrem Arbeitsplatz fahren. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter befand sich auf einer Fortbildung in Kalifornien, sodass sie einen Großteil der Verantwortung für ein System trug, das sogar jedem Zivilisten ein Begriff war. Vom Gebäude vierhundert auf der Schriever Air Force Base wurde das Global Positioning System gesteuert und überwacht. Das weltweite, aus derzeit vierunddreißig Satelliten bestehende Navigationssystem diente schon seit Langem nicht mehr nur dem Militär zur Positionsbestimmung, sondern wurde von nahezu vier Milliarden Nutzern auf Schiffen, in Flugzeugen, Autos, Smartphones und zahllosen weiteren Endgeräten verwendet. Neben der Begleitung eines nie endenden Modernisierungsprogramms gehörte es zu Holdens Aufgaben, dafür zu sorgen, dass das System ausfallsicher und fehlerfrei lief. Letzteres bereitete seit einigen Tagen jedoch unvorhergesehene Probleme. Nachdem die interne Fehlersuche erfolglos geblieben war, hatte der Chef ihres Chefs, Space Delta 8 Commander Colonel Tenent, den Hersteller der Satelliten Lockheed Martin, Experten der Defense Advanced Research Projects Agency und, falls die Ursache in einer Einflussnahme von außen liegen sollte, auch den Militärgeheimdienst, die Defense Intelligence Agency, mit einbezogen. Offenbar gab es erste Resultate und offenbar konnten diese nicht bis nach dem Frühstück warten.
Holden eilte durch die fensterlosen Flure und schaute auf ihre Armbanduhr. 0958 UTC. Gerade noch rechtzeitig. Im Videokonferenzraum saß Tenent bereits am Kopfende des Tisches und blätterte in einigen Unterlagen. Möglichst geräuschlos nahm sie neben ihm Platz.
»Sir.«
»Major. Dann sind wir ja vollzählig und können anfangen.« Tenent nickte seinem Executive Officer zu, der die Mikrofone und Kameras freigab. Zeitgleich erwachte die Videowand zum Leben und zeigte die verschiedenen Teilnehmer mit Angabe ihres Namens, des Ortes und der lokalen Uhrzeit.
»Guten Morgen«, begann er. »Ich bin mir bewusst, dass dieses Meeting sehr kurzfristig angesetzt wurde, umso mehr danke ich Ihnen allen für Ihre Teilnahme. Vor einer Stunde erreichte mich die Nachricht von Dr. Sorsky, die DARPA habe die Ursache für die Fehlfunktion in unserem System gefunden. Dr. Sorsky bat zudem darum, einen Vertreter des Nationalen Sicherheitsrates zu dieser Runde hinzuzuziehen. Ich begrüße daher die Senior Direktorin für den Bereich Verteidigung, Ann Bancroft, in Washington.«
Die resolut wirkende Beraterin verstand dies offenbar als Aufforderung, das Wort zu ergreifen. »Vielen Dank für die Einladung, Colonel Tenent. Mir wurden im Vorwege allerdings keinerlei Informationen zur Verfügung gestellt, weswegen meine Teilnahme erforderlich ist. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in aller Kürze zusammenfassen könnten, was ich wissen muss.«
»Natürlich Director«, erwiderte Tenent und drehte sich zu Holden. »Major?«
Holden nickte und schaute in die Kamera. »Wie Sie vermutlich wissen, Ma’am, ist unsere Einheit für den Betrieb des Global Positioning System, kurz GPS, zuständig. Um eine korrekte Positionsbestimmung durchführen zu können, muss ein terrestrischer Empfänger, zum Beispiel das Navigationssystem in Ihrem Auto, gleichzeitigen Kontakt zu mindestens vier unserer Satelliten haben. Dabei ist es erforderlich, dass alle Satelliten und der Empfänger ein übereinstimmendes, exakt synchronisiertes Zeitsignal verwenden, wofür die Satelliten mit eigenen Atomuhren ausgestattet sind.«
Bancroft nickte. »Spielt dabei nicht auch Einsteins spezielle Relativitätstheorie eine Rolle?«
»Richtig. Die Satelliten befinden sich in einer Umlaufbahn in über zwanzigtausend Kilometern Höhe. Die Gravitation der Erde wirkt dort schwächer als auf der Erdoberfläche. Hinzu kommt die Eigengeschwindigkeit der Satelliten. Beides führt nach Einsteins berühmten Formeln dazu, dass die Atomuhren in den Satelliten eine Winzigkeit schneller laufen als unsere Uhren auf der Erde. Die Taktung der Uhren in den Satelliten ist daher leicht verändert, um diesen Effekt zu kompensieren. Ansonsten liefen die GPS-Zeit der Satelliten und unsere terrestrische Zeit immer weiter auseinander, was eine präzise Positionsbestimmung unmöglich machen würde.«
»Verstanden.« Bancroft blickte wenig subtil auf ihre eigene Armbanduhr. »Und was ist jetzt das Problem?«
»Das Problem ist, dass genau das seit einigen Tagen passiert. Die Uhren laufen nicht mehr synchron. Und dabei geht es nicht um eine oder ein paar Uhren. Alle Uhren in sämtlichen Satelliten weichen in exakt dem gleichen Ausmaß von der terrestrischen Zeit ab. Die daraus resultierenden Ungenauigkeiten bei der Positionsbestimmung sind in einem Bereich, den die meisten Nutzer nicht bemerken würden, und wir haben auch einige technische Möglichkeiten, um nachzujustieren, aber mehrere Dutzend Atomuhren gehen nicht zur selben Zeit und mit exakt dem gleichen Resultat kaputt.«
»Sie vermuten Sabotage?«, fragte Bancroft alarmiert.
»Wir wissen es nicht. Daher dieses Meeting.«
»Danke, Major«, zog Tenent das Gespräch wieder an sich. »Ich denke, es ist nun an der Zeit, Dr. Sorsky zu Wort kommen zu lassen, da er um die Vorverlegung dieses Meetings gebeten hat.«
Der Wissenschaftler von der DARPA hatte sich Verstärkung mitgebracht. Insgesamt zählte Holden fünf Personen, die gerade eben genügend Platz im Kameraausschnitt fanden.
»Ich danke Ihnen, Colonel Tenent. Wir haben mit Hochdruck an einer Analyse Ihres Problems gearbeitet und sind an einem Punkt angekommen, wo wir nicht länger umhinkommen, eine Hypothese in den Raum zu stellen, die ebenso abwegig wie unausweichlich erscheint.«
Verblüfft fragte Holden sich, was dieser Einleitung wohl folgen mochte. Verglichen mit der letzten Videokonferenz wirkte der Wissenschaftler fahrig und angespannt, und auch seine Kollegen machten einen alles andere als glücklichen Eindruck.
»Nach den uns vorliegenden Plänen, Wartungsprotokollen und Diagnose-Logs schließen wir eine technische Fehlfunktion aus. Auch haben wir bei der Überprüfung der Betriebssoftware und der Kommunikationsschnittstellen der Satelliten keinen Weg identifizieren können, der eine Sabotage möglich erscheinen lässt. Da unterschiedliche Bautypen von Satelliten mit teilweise signifikant unterschiedlichen Komponenten betroffen sind, scheidet auch eine Manipulation der Hardware bereits in der Bauphase aus.«
Der Vertreter des Geheimdienstes schaute skeptisch, widersprach aber nicht.
»Wir haben daher die … wie soll ich es nennen … Umweltbedingungen einer intensiven Betrachtung unterzogen und sind auf unerwartete Ergebnisse gestoßen.«
»Tut mir leid, Dr. Sorsky. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen«, warf Bancroft ein. »Es handelt sich um keinen technischen Defekt und es ist auch keine Sabotage. Was bleibt dann noch übrig?«
»Die Abweichung der Atomuhren in den Satelliten zu unseren Uhren auf der Erde hängt im Wesentlichen von zwei Variablen ab: ihrer Entfernung zur Erde, sprich der Höhe der Umlaufbahn, und ihrer Eigengeschwindigkeit. Die Formeln, die diese Abweichung beschreiben, enthalten zudem zwei wichtige Konstanten: die Masse der Erde und die Lichtgeschwindigkeit. Eine Veränderung der Umlaufbahn ist nicht erfolgt, ebenso wenig eine Veränderung der Eigengeschwindigkeit. Für eine Veränderung der Masse der Erde gibt es ebenfalls kein Indiz.«
Nach dem letzten Satz breitete sich gedämpfte Heiterkeit unter den Teilnehmern aus. Die einzigen, die keinerlei Anzeichen von Belustigung zeigten, waren die Wissenschaftler der DARPA. Sorsky schaute kurz zu seinen Kollegen. »Anderes gilt allerdings für die Lichtgeschwindigkeit.«
Es dauert einen Augenblick, bis die Bedeutung dieses Satzes bei seinen Zuhörern ankam.
»Ich verstehe nicht ganz, Dr. Sorsky«, sagte Tenent irritiert. »Was meinen Sie damit?«
»Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum beträgt 299.792.458 m/s. Das heißt, sie betrug 299.792.458 m/s. Eher aus einer Laune heraus haben wir eine schon mehrere Jahrzehnte alte, aber immer noch bei uns vorhandene und extrem genaue Versuchsanordnung benutzt, um mithilfe eines Lasers eine aktuelle Messung durchzuführen. Unser Ergebnis wurde bereits von zwei weiteren Forschungseinrichtungen verifiziert. Aktuell beträgt die Lichtgeschwindigkeit nur noch 299.792.449 m/s.«
»Unsinn!«, widersprach Tenent brüsk, schien seine Wortwahl jedoch gleich zu bereuen. »Bei allem Respekt, Dr. Sorsky. Die Lichtgeschwindigkeit ist eine unveränderliche Konstante.«
Sorsky lachte mit einem Unterton von Verzweiflung in der Stimme. »Der Meinung bin ich bislang auch gewesen.«
»Das ist vollkommen verrückt«, beharrte Tenent.
»Dem kann ich nur beipflichten, Colonel. Was das Ganze jedoch erschreckend real macht, ist die Tatsache, dass die von uns ermittelte Abweichung zwischen bisheriger und aktuell gemessener Lichtgeschwindigkeit exakt zu der von Ihnen festgestellten Asynchronität in den Atomuhren der Satelliten passt. Anders gesagt, wenn Sie die Taktung Ihrer Uhren auf Grundlage der von uns neu gemessenen Lichtgeschwindigkeit nachjustieren, laufen sie wieder genau synchron mit den Uhren auf der Erde.«
Hierauf schienen allen Beteiligten die Worte zu fehlen, denn es kehrt Stille ein.
»Das ist allerdings noch nicht alles«, fuhr Sorsky schließlich fort. »Unsere Messfolge zeigt, dass die Lichtgeschwindigkeit weiterhin sinkt. Und der Prozess scheint sich zu beschleunigen.«
»Offen gestanden teile ich Colonel Tenents Meinung, dass Sie sich irren müssen, Dr. Sorsky«, sagte Bancroft kopfschüttelnd. »Aber angenommen, es wäre so, wie Sie sagen, was würde das bedeuten?«
Erschöpft rieb Sorsky sich die Stirn. »Ehrlich gesagt handelt es sich um ein Szenario, mit dem ich mich aus nachvollziehbaren Gründen nie ernsthaft auseinandergesetzt habe. Aber zuerst würden wir, abgesehen von den Effekten in sehr speziellen Bereichen wie bei der satellitengestützten Navigation, nicht viel bemerken. Ginge die Verlangsamung der Lichtgeschwindigkeit tatsächlich ungebremst weiter, fiele irgendwann sicherlich auf, dass die Teleskope der Astronomen immer weniger weit in den Weltraum blicken können, dass die Rechengeschwindigkeit von Computern geringer wird und die Zeitverzögerung bei Ferngesprächen zunimmt. Doch ab einem bestimmten Punkt werden die Auswirkungen schlagartig gravierender. Umlaufbahnen von Planeten ändern sich, ebenso die Struktur der Materie selbst. Nur weil die Gegebenheiten in unserem Universum sehr fein aufeinander abgestimmt sind, ist unsere Existenz überhaupt möglich, und jede größere Veränderung führt zwangsläufig zu einem Kipppunkt, ab dem das gesamte Gefüge ins Rutschen gerät. Die Menschheit wird es dann allerdings schon nicht mehr geben.«
»Auf der Grundlage Ihrer bisherigen Daten, wie lange würde es dauern, bis es zu diesen extremen Folgen käme?«, fragte Bancroft mit belegter Stimme.
Sorsky räusperte sich. »Nach meiner letzten Hochrechnung bleiben uns noch etwa sechzig Tage.«